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Venezuela-Blog

Lionel Tom
Student der Theaterpädagogik

Bergfest, Muskelkater und andere Tiere

Jeden Tag klemmt es irgendwo in der Pobacke, dem Oberschenkel oder dem Ruecken. Es ist die angenehme Uebersaeuerung der Muskeln, die wie der Lohn der Arbeit ist. Arbeit ist nicht nur der Aufstieg zum hoch gelegenen Hostel, mit Blick auf dreimal Hamburg (was immernoch nur ein Bruchteil von Bogota ist), sondern das Training mit Luz de Luna.(http://www.nodo50.org/teatroluzdeluna/freundeskreis.htm)

Anfangs blieben ja noch ein paar fragen offen, bei dem Vorhaben zu fuenft zu reisen und nebenbei, trotz neuer Fahrten, Ferne, Abenteuer, noch zu studieren. Aber inzwischen muss sich jede_r Zweifler_in fragen: warum piekst es nicht in meiner Muskulatur? Wir lernen zahlreiche neue Uebungen, lernen Spanisch und kommen nebenbei gut mit unserem eigenen Projekt voran. Gerade heute haben wir 4 brandneue Masken gebaut. Am Osterwochenende hat Luz de Luna uns eingeladen, mit ihnen die Strasse zu bespielen und die naechsten vier Tage geben wir Workshops.

Dazu reift das Projekt: Luz de Luna en Alemania! Eine theaterbegeisterte Gruppe von 8 Bogotarianer_innen wird nach aktuellen Planungen im November unser Gast sein. Das bedeutet fuer uns: Spielstaetten fuer das Kollektiv zu finden. Luz de Luna moechte Workshops geben und ein einstudiertes Stueck praesentiern. Nicht zuletzt um etwas Geld fuer das renovierungsbeduerftige Theaterzentrum zu sammeln, damit die Arbeit in Bogota wie bisher fortgesetzt werden kann. Wer Ideen hat, her damit!

In der Stadt spreche ich mit einem Student. Es geht um Klima, Essen, Sozialismus, Polizei, Drogen und Tipps fuer uns Kunsttouris. Ich erfahre, dass hier eine komplette Strasse eines Armenviertels, die Calle del Cartucho, ersatzlos von den Staatsschergen geraeumt und abgerissen wurde. Tausende verlieren ihre Bleibe, oder das was sie haben und werden ins Irgendwo verdraengt. Spaeter erzaehlt eine anderer Freund: "sowas passiert hier oefter!" Zuhause sprechen wir von Verdraengung, die heimlich, nach den Regeln der Verwertungslogik stattfindet. Gentrifizierung ist auch hier ein bekanntes Wort, allerdings gibt es kaum solidarische Bekundungen fuer tausende, von Verdraengung betroffender Menschen. CRIME TV zeigt uns Bilder dieser Strasse, die fuer unsere Augen das absolute Elend von menschlicher Entwicklung praesentiert. Verkauft als das Boese aufgrund von Kriminalitaet, Immigration und Drogen. Eine relativ wiederspruchslose Rechtfertigung fuer das brutale Vorgehen der staatlichen Behoerden.

Mit Luz de Luna sind wir neben einem Viertel in dem Menschen vom Muell leben. Pferdekutschen bringen, nur wenige hundert Meter von der huebschen Innenstadt entfernt, Muellsacke zur Sortierung in den Lebensraum der Menschen. Eine kleine Verdienstmoeglichkeit. Wir sollen uns wegen Gefahr von den Leuten fern halten, Taxis fahren hier nachts nicht mehr. 3 Morde an Fahrern sprechen eine deutliche Sprache. Wir merken von alldem sehr wenig, treffen herzliche Menschen und wundern uns blosz immer, wenn unsere Begleiter_innen mit uns durch das Viertel, wie ueber heisze Kohlen laufen. Rapido!

Der Student erzaehlt mir von heimlichen sozialistischen Bestrebungen junger Kolumbianer_innen und davon, wieweit die linken Guirillas der FARC von den Idealen der Menschen und ihrer eigenen Geschichte weggerueckt sind. Alle Organisationen bekaempfen sich hier gegenseitig, aus ihrer starren Position heraus. In einem Dreieck der Gewalt bekomme ich aufgemalt, wie die Bevoelkerung in der Mitte des ganzen Hasses zwischen Regierung/Polizei, Paramilitaers und Rebellen leidet. Kolumbien stuenden duestere Zeiten bevor. Bildung, sogar die groeste, staatliche Universitaet in Bogota, soll privatisiert werden. Viel der lokalen Infrastruktur ist es bereits. Die immer weiter aufgehende Schrere gleicht hier eher einer Schnur, bei der einigen Wenigen, am oberen Ende, ueber 70% des Landes gehoeren und der Rest wie ein fettes Pendel am Boden schwingt. Auf dem Plaza Bolivar stehen die streikenden Lehrer, behelmte Polizei steht bereit.

Abends besuchen wir ein Theater, das sich von der europaeischen Dominanz in der Kultur abwendet, eigene Stile verwendet und diese im Kollektiv entwickelt. Vier Schauspieler_innen zeigen ein Stueck ueber die Geschichte und Situation Kolumbiens. Auf der Buehne ein Wechsel von Tod und Realitaet. Auf Leinwaenden, zerstoerte Straszen des Buergerkriegs. Figuren mit Masken, Viele bunte Requisiten, Musik, Lichtwechsel und Schattenspiel. Die Spierler_innen tanzen mit Schaufensterpuppen, am Ende sterben alle. Ein Feuerwerk der Eindruecke, zahlreiche Stile und sehr taenzerische Schauspieler_innen, die mich aus meiner europaeischen Perspektive aber nicht vollstaendig mitreiszen. Das Publikum dankt mit standing ovations und der Hauptdarsteller ergreift nach der Vorstellung nochmal das Wort.

Auf der Lebens-To-do Liste steht jetzt: Stelzen bauen. Die sympathischen Beinverlaengerungen stellen fuer mich ein klares Highlight der Reise dar. Bisher waren mir die Dinger immer suspekt. Wahrscheinlich, weil ich mir als Kind an diesen bloeden Holzstelzen, die man sich unter die Arme klemmt, immer weh getan habe. Hier war´s, nicht zuletzt wegen der tollen Anleitung, ganz anders. Im Nachhinein frage ich mich, warum auf meiner Lebens-To-do-Liste nicht laengst stand: Auf 3500 Meter Hoehe, mit Blick auf ganz Bogota und 10 aufgedrehten Freaks, Stelzen laufen lernen und ploetzlich koennen. Den Punkt koennte ich sowas von abhaken...

Bei unserer eigenen Theaterarbeit geht es zuegig voran. Wir kriechen als Schlangen durch das Haus von Luz de Luna un schluepfen in diverse Rollen. Das Zusammenspiel klappt und fuer alle wurde mas o menos ein Weg gefunden auf der Buehne Spielfreude zu entwickeln. Passt! 

Samstag, 23.3. - Ab in die Schule!

Ich warte auf Daniel von Luz de Luna, der uns mit zu seinem Schultheaterprojekt nehmen will. Es ist 6 Uhr morgens, ich verfluche ihn, er verspaetet sich, spaeter liebe ich ihn. 
Dank des unendlichen Wartens (im Internet) weisz ich nun, dass Coca-Blaetter boese sind. Im Bioladen haben wir uns eine Groszpackung Coca-Tee besorgt. Cocablaetter sind hier legal, nicht so stark wie Cafe und ohne Nebenwirkungen zu genieszen. Viele nutzen sie. Sie sind hier eine natuerliche Heil- und Genusspflanze, Ich wuerde gerne eine Packung mitnehmen, aber in Deutschland fallen Coca-Blaetter unter das Beteubungsmittelgesetz und bedeuten Stress mit dem Zoll. Klar alta! Ich mach mir aus 30 Teebeuteln Blaettern eine hundertstel Line Koks und kurbel damit die Drogenkriminalitaet an.
Manche Gesetze sind so bescheuert, dass nur noch die Planierraupe hilft. Anstatt den Kokabauern in Europa einen legalen Markt zu ermoeglichen und den Menschen eine ungefaehrliche aber nuetzliche Pflanze zu goennen, schenkt Mensch Coca-Cola ein Monopol und gibt schnauzbaertigen Zollbeamten eine Daseinsberechtigung. Botanischen Rassismus, nennt es Eine unserer Gruppe. Ne Pflanze verbieten... Hackt´s? Die Nordsee: verbieten! Salz brennt in den Augen und ist ein Geschmacksverstaerker. Berge auch verbieten. Viel zu hoch, duenne Luft, Absturzgefahr. Und Pferde auch verbieten! Denn die landen sonst im deutschen Hackfleisch und dann ist das nicht mehr rassenrein! Genau! Lasst uns weiter zu Pharmakonzernen laufen, Koffeintabletten kaufen, ne Kippe, ein Blutverduenner verschreiben lassen und zum einschlafen die rote Pille und ´n Schnaps.
Manchmal glaube ich wir sollten nochmal bei Null anfangen. Besonders lecker ist der Tee allerdings nicht...

Daniel taucht schlieszlich auf und wir lernen 35 theaterbegeisterte Teenager ohne Beruehrungsaengste kennen. Nach einem Training helfen wir bei der szenischen entwicklung zweier Performances. Ich habe wahnsinnigen Spasz mit Koerperspanisch und meiner Gruppe. Wir erarbeiten Pferde und einen Diktator. Kolumbianische Geschichte wird hier auch von Teenagern interessiert und spielerisch verarbeitet. Ein Diktator im Buergerkrieg hat ein Rueckenproblem einen Tick und unendlich viel Arroganz! Ich wuensche mir, dass auch in Deutschland so gegen das Vergessen gearbeitet werden wuerde.
Am Ende stehen anschauliche Szenen der Kinder, die jeden Samstag freiwillig das Theaterangebot nutzen. Ein Treffen kostet die Kinder knapp 2 Euro, wenn mal wer nicht zahlen kann, fuer Daniel kein Problem.

Die Haelfte meiner Zeit hier ist um... Die erste Haelfte kann also nur noch durch die Zweite getoppt werden. 

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