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Venezuela-Blog

Lionel Tom
Student der Theaterpädagogik

was hier abgeht...

Das Theaterprojekt mit Luz de Luna war nicht nur ein naechster Schritt auf der Theatertreppe, sondern auch ein Einblick in eine Theaterszene, wie ich sie noch nicht kannte, jetzt aber suchen oder bauen will. Wir haben einen grossen Rucksack voller neuer Uebungen, Anstoesse und Muskeln. Auch im Anleiten konnten wir neue Erfahrungen sammeln und es war eine Genugtuung, dass es unseren Freunden, bei den akrobatischen Figuren, auch mal an Koerperspannung mangelte. Hoehenangst auf den Schultern... Ha! Es ist eben alles Uebungssache. Somit lassen wir was zum ueben in Bogota und nehmen gleichzeitig ein ganzes Studium mit. Wenn dit ma keen Austausch is, wa?
Die Meute ist uns gefaehrlich nah ans Herz gewachsen und erste Ueberlegungen der Wiederkehr machen sich bereits vor der Abreise in unseren euphorisierten Koepfen breit.

Wir kommen auch noch auf politische Themen zu sprechen und erfahren, dass eine linke, sozialistische oder kommunistische Einstellung in Kolumbien oft bedeutet, mit den terroristischen Guerrillas gleichgesetzt zu werden. Wir sprechen ueber den Konflikt der gegeneinander kaempfenden Gruppen in Kolumbien und bekommen auf der Landkarte Regionen gezeigt, in den die Landbevoelkerung es schafft, sich zu organisieren. Fuer ihr Land, fuer gerechte Verteilung und Autonomie. Das besondere: dort klappt eine Organisierung ohne Anschluss an die grossen und dominanten Gruppen, die die meisten Landstriche dominieren. Ein Luz de Luna Freund wuenscht sich mehr solcher Bewegungen, ueberall, ohne die vorbelasteten Truppen von Farc-EP, ELN oder den Paramilitaers.

Mit den Erkenntnissen unserer ersten Strassentheaterversuche koennte ich sowohl aus Sicht des Regisseurs, als auch aus Sicht des Spielers und des Publikums, Buecher fuellen. Vielleicht mache ich das auch noch. Erstmal steht fest, dass kaltes Wasser eine sehr fruchtbare Grundlage fuer eine erfolgreiche kuenstlerische Entwicklung sein kann. Da wird was draus!

Von Bogota fahren wir nach Maracaibo, wo wir es uns nach 48 Stunden Busreise nicht nehmen lassen, unsere Homies vom Velada-Projekt wieder zu sehen. Bevor wir uns mit dem ganzen Mob vereinen, fahren drei von uns noch zu einem grossen Event. Ein fett aufgezogenes Konzert der Regierung, in Gedenken an den verstorbenen, viel gefeierten Chavez, mit populaeren Bands. Hauptact fuer den Abend ist die anarchistische Skaband SKA-P aus Spanien, die zum ersten Mal in den Strassen Maracaibos spielen wird. Der Veranstaltungsort, eine komplett abgeriegelte Strasse. Grillschwaden verdicken die Luft. Viele junge Menschen, ein sehr gemischtes Publikum, nur die Grosseltern sind zuhause geblieben. Volksfestcharakter. Empfangen werden wir von der veneuelanischen Nationalhymne, die weite Teile der Masse (auch  augenscheinliche Antinationalist_innen) lautstark mitsingen. Auf riesigen Leinwaenden das Gesicht von Chavez, sowie ein Schriftzug fuer seinen Nachfolger Maduro. 

Bis zur Wahl fuer den neuen Praesidenten sind es noch ca. zwei Wochen. Ueberall sind die bolivarischen Farben zu sehen, die angrenzenden Haeuserwaende tragen bunte Bilder zugunsten des Verstorbenen. Es ist eine Gedenkveranstaltung und gleichzeitig ein rauschendes Fest fuer die jungen Menschen. Der Eintritt ist wieder frei, die Motivation und Ausrichtung klar politisch. Bei dem Anblick dieser Inszenierung, dem Geraeusch der Hymnen und den euphorisierten Jugendlichen wird uns der Magen flau. Nicht weil wir genau verstehen was hier passiert, vielmehr, weil wir automatisch den Vergleich zu den uns gewohnten Strukturen ziehen, was uns zusammen mit unserem Geschichtverstaendnis Unwohlsein bereitet. Es handelt sich ohne Verheimlichung um eine Propagandaveranstaltung der nationalen Regierung. Uns ist befremdlich, dass tausende das mitmachen, mitsingen und unterstuetzen. Zwei Animateure heizen die Menge von der Buehne aus mit Chavez-Parolen ein. "PATRIA, PATRIA" (Vaterland) wird ebenso lautstark gebruellt, wie Sprechchoere fuer die Partei und die fortlaufende Revolution. Ich kenne diese Sprechchoere, die Eigendynamik. Stand selbst oft mit erhobener Faust in einer Gruppe, fuer ein Ideal ein, oder im Protest. Das es sich dabei aber um die Linie der Staates, der Regierung handelt, die fuer mich und meine Freunde ein reisserisches Szenario veranstaltet, kommt mir arg ungewohnt vor.

Ebenso befremdlich ist mir die Vorband von SKA-P, die in den staatsfarben und mit parteitreuen Sprechchoeren dem Event einen jugendlichen und kultigen Charakter verleiht. Wenn ich das Lied "VENEZUELA" auf mein Herkunftsland uebersetzen wuerde, muesste ich auf die Buehne rennen und dem Saenger das Mikro ueber die Ruebe ziehen.
In spaeteren Gespraechen und mit einer genaueren Befassung der hiesigen Situation und Geschichte, wird mir aber klar, dass der schnell zu Hilfe gezogene Deutschlandvergleich, angewendet auf Venezuela, einfach nicht funktioniert. Jahrelange europaeische Kolonialdominanz, sowie anschliessende Wirtschaftsdominanz der Industriestaaten, koennen ein Nationalbewusssein als Folge haben, dass aus anderen Motivationen begruendet ist. Anders als z.B. ein deutsches Nationalbewusstsein, ist das Nationalbewusstsein hier, wie ich mir spaeter erklaeren lasse, vielmehr ein Ruf nach Freiheit und Unabhaengigkeit. Ein Versuch sich aus den Faengen imperialistischer Herrschaft zu befreien und einen sozialen Gegenentwurf als Vorzeigebeispiel fuer die WElt zu gestalten. Ein deutsches Nationalbewusstsein hat im derzeitigen System vor allem den Charakter der Abgrenzung gegenueber der Schwaecheren, der Erhaltung des Status und den Solz auf... ja was eigentlich...?

Auf meine Frage, wie Freiheit mit einem Nationalstaat erreicht werden will und ob Abgrenzung der Weg der Verstaendigung und beispielhaften Vorzeigepolitik sei, bekomme ich verschiedene Antworten. Zum einen wird immer wieder erwaehnt, dass ein erster Schritt in die "richtige" Richtung, nicht gleich alle Faktoren des angestrebten Ziels beruecksichtigen kann. Zum anderen wird mir erklaert, dass dieser Versuch der Revolution ohne Abgrenzung garnicht moeglich ist, solange Nationalstatten um diese Idee herum, den revolutionaeren Kampf mit ihren Mechanismen sabotieren. 
Das ergibt im nationalstaatlich gedachten Rahmen und realpolitisch erstmal Sinn. Zumindest solange mensch von einem entweder/oder Denken ausgeht. Bei der anstehenden Wahl wird es nur entweder/oder geben. Ich frage ob den Menschen diese Optionen genuegen, denn mir genuegen sie nicht. Wo sind dritte Wege? Organisierung mit Gleichdenkenden?
SKA_P verleiht haut diese Ueberlegungen mit Nachdruck durch die Boxen. Vorher der Lobgesang auf Chavez und den Staat, jetzt ein anarchistisches Fest der besten Sorte. Hae? Die gleichen Leute tanzen und feiern. SKA_P singt von Antikapitalismus, gegen Staaten und fuer die Legalisierung von Marihuana. Fuer ein freies Leben ohne Herrschaft, in einer katholischen Kutte, mit Teufelsmaske und eim Dreizack zwischen den Beinen. Im Hintergrund auf der Leinwand sind Riot-Videos aus Griechenland und Heiligendamm zu sehen. Mollis von Anachist_innen gegen den Staatsapperat, hier, von den Menschen als antikapitalistischer Erfolg in Europa gefeiert.
 Einerseits bin ich ein wenig erleichtert, dass auch anarchistische Inhalte hier Platz finden, andererseits erschrocken, dass sich diese Inhalte so einfach fuer einen Staat instrumentalisieren lassen.
Was hier abgeht...

Spaeter treffen wir mit unseren Velada-Freunden zusammen. Prahlen mit unserem neu erworbenen Spanisch und freuen uns herzlich.

Nach Maracaibo fahren wir mit Mafi aus Maracaibo nach Merida. Erstmal n bisschen Bergluftschnappen. Der augenscheinlich rot und Maduro dominierte Wahlkampft ist inzwischen ueberall allgegenwaertig. In unserer Herberge machen wir Theater, in den Bergen klettern wir auf ueber 4000 m und werden Zeuge, der atemberaumbenden Anden. Eine Natur, dass ich ihr gerne wochenlang meine Aufmerksamkeit schenken wuerde. Ein Teil von uns irrt durch alle Geschaefte Meridas um einfache Dinge wie Klopapier, Mehl oder Oel zu bekommen. Nix da, trotz Schlange stehen. Die Leute schimpfen auf der Strasse: "Darum muessen wir wahlen gehen...!" Seltsam einerseits teuren Wahlkampf zu betreiben, anderseits die Versorgung nicht staemmen koennen. Nicht klug vor der Wahl. Ueberall Pepsi, aber keine Kackpappe! WErden darum so viele Wahlpapierplakate von den Waenden gerissen?


Wir erleben Tage des hohen Pulses. Wir sind teilweise bei ueber 250, wenn wir durch die duenne Luft einen Steinbrocken hochkraxeln. Bei vielen Venezuelandern schlaegt das Herz auch hoch, wegen der anstehenden Entscheidung. Ueberall im Strassenbild rote T-Shirt, Aufschriften auf Hausern und Autos. Grosse Gruppen ziehen wahlkaempfend durch die Stadt. Es geht halt nicht um Merkel oder Schroeder, sondern um totale Veraenderung des Bestehende, bzw.um die Fortfuehrung einer Idee.

Wir machen weiter Theater sind gespannt auf die Entwicklung und hoffen, dass die Strasse in dieser heissen Phase auch noch Platz fuer unser Spiel laesst.
Bis denne

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